Tiefere Wahlbeteiligung nach Gemeindefusionen im Tessin
(Aarau) Nach Gemeindefusionen gehen im Kanton Tessin weniger Stimmberechtigte wählen als vor der Fusion. Dies zeigt eine Studie des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA). Auswirkungen auf das politische Leben müssen deshalb bei Gemeindefusionen mitbedacht werden.
Die Anzahl Gemeinden im Kanton Tessin hat sich zwischen dem Jahr 2000 und 2012 durch Fusionen von 245 auf 147 Gemeinden verringert. In fusionierten Gemeinden sank im selben Zeitraum die Beteiligung bei Wahlen in den Gemeinderat von 76 auf 59 Prozent. Nicht-fusionierte Gemeinden verzeichneten einen geringeren Rückgang der Wahlbeteiligung von 70 auf 60 Prozent.
Die statistisch signifikant stärkere Abnahme der Wahlbeteiligung in fusionierten Gemeinden kann zum grössten Teil den Fusionen zugeschrieben werden. Die Analyse der beiden Politikwissenschaftler Philippe Koch und Andreas Rohner vom Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) zeigt, dass unter Berücksichtigung anderer Einflussfaktoren die Gemeindefusionen im Durchschnitt einen Rückgang der Wahlbeteiligung um 5.74 Prozent verursachten. Fusionen verstärken somit den bestehenden Trend einer Abnahme der Partizipation noch deutlich.
Entfremdung von der Politik
Die Politikwissenschaftler erklären sich den Effekt dadurch, dass das politische Interesse der Stimmbürger nach einer Fusion sinkt, weil sich ein Teil der Stimmberechtigten mit der fusionierten Gemeinde nicht mehr identifizieren kann. «Die Wählerinnen und Wähler messen ihrer Stimme in einer fusionierten und somit grösseren Gemeinde vermutlich weniger Gewicht bei. Darauf deuten auch Umfrageergebnisse aus dem Ausland hin», so Philippe Koch.
So zeigt die ZDA-Studie, dass die Abnahme der Wahlbeteiligung in denjenigen Ursprungsgemeinden besonders deutlich ist, die nur einen kleinen Bevölkerungsanteil an der neu entstandenen Gemeinde ausmachen.
Als Protest gegen die Fusion kann die sinkende Wahlbeteiligung nicht interpretiert werden. Nur vier der Fusionen waren vom Kanton Tessin verordnet, alle anderen fanden freiwillig statt und wurden mit bisweilen hohen Ja-Stimmen-Anteilen an der Urne abgesegnet. Der Anteil der Ja-Stimmen hatte keinen Einfluss darauf, wie stark die Wahlbeteiligung nach der Fusion sank.
Auswirkungen auf das politische Leben
Ob sich der Effekt auch langfristig zeigt, müssten weitere Studie zeigen. Für die Autoren zeigt die Studie klar, dass bei Fusionen nicht nur finanzielle und administrative Aspekte berücksichtigt werden müssen: «Auswirkungen auf das politische Leben müssen ebenfalls mitbedacht werden. So verändern Fusionen etwa auch das lokale Parteiensystem. Lokalparteien verschwinden oder verlieren Wähleranteile, während Kantonalparteien oder nationale Parteien gewinnen», sagt Philippe Koch.
Solche Auswirkungen mitzubedenken sei gerade im Kanton Tessin besonders wichtig. Die Regierung plant nämlich, die Zahl der Gemeinden weiter zu senken – von 135 auf 23 Gemeinden.
Die Erkenntnis, dass Fusionen die Wahlbeteiligung senken können, ist gemäss Koch auch auf andere Kantone der Schweiz übertragbar. Die Zahl der Gemeinden in der Schweiz hat von 1990 bis heute von 3021 auf aktuell 2352 abgenommen. Weitere Gemeindefusionen sind in verschiedenen Kantonen geplant.
Die Methodik der Studie
Die Analyse von Gemeindefusionen ist methodisch schwierig, da der Untersuchungsgegenstand (die Ursprungsgemeinde) im Zeitraum der Untersuchung verschwindet. Im Kanton Tessin konnte das Stimmverhalten auch nach der Fusion auf der Ebene der Ursprungsgemeinde erhoben werden, da die Ursprungsgemeinden weiterhin eigene Wahlbüros betreiben.
So konnte die Studie fusionierte Gemeinden als Untersuchungsgruppe und nicht-fusionierte Gemeinden als Kontrollgruppe vor der Fusion (2000) als auch nach der Fusion (2012) untersuchen. Dank dem quasi-experimentellen Untersuchungsdesign sind zuverlässige Aussagen über die Kausalität von Fusionseffekten möglich. Mit einem ähnlichen Untersuchungsdesign kamen Forschende in Dänemark zu ähnlichen Ergebnissen.
Studie: Philippe Koch/Andreas Rohner: «The Democratic Effects of Local Government Consolidation: Evidence from a Quasi-experiment». Die Studie wurde heute im Rahmen der 6. Aarauer Demokratietage präsentiert und wird derzeit zur Einreichung in einem akademischen Journal vorbereitet.
Das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) ist ein Forschungszentrum der Universität Zürich und der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Für Rückfragen:
Philippe Koch, Tel. 078 663 35 46
philippe.koch@zda.uzh.ch
Am besten erreichbar am Freitag, 28. März von 13.00 - 16.00 Uhr
Adrian Ritter / Öffentlichkeitsbeauftragter ZDA
Zentrum für Demokratie Aarau
- ein Forschungszentrum der Universität Zürich und
der Fachhochschule Nordwestschweiz
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